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Sichtflug durch den Dschungel

Agil & Nachhaltig

Produktmanagement – Agil & nachhaltig (Teil 1): der veränderte Kontext

Studium und Berufseinstieg mögen sich noch anfühlen wie Straßenbahn fahren auf dem Verkehrsübungsplatz: zwei Hebel, übersichtlicher Schienenverlauf. Nach den ersten Berufsjahren wird es deutlich komplexer: zum einen tauschen wir die gemütliche Straßenbahn gegen einen flotten Düsenjäger. Zum anderen fliegen wir auf Sicht im Dschungel. (Falls Sie dieses Gefühl erleben möchten, suchen Sie bei YouTube nach Star Wars Speeder Bike Chase.) Wenn Sie Ihre Ausbildung bereits hinter sich haben, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie für diesen veränderten Kontext nicht gut vorbereitet sind. Wenn Sie Produktmanager oder Geschäftsführer sind, ist es unvermeidlich, dass Sie dennoch unternehmerische Entscheidungen treffen und strategische Vorhaben durchziehen.

Dass unsere Welt und damit auch das Umfeld von Unternehmen komplexer werden und sich schnell verändern, ist hinlänglich bekannt. Das Militär und Systemwissenschaftler haben dafür sogar eine Abkürzung erfunden: VUCA steht für volatile, uncertain, complex, ambiguous. (Wenn Sie VUCA bei YouTube suchen, finden Sie nicht etwa Shakira-Clips, sondern recht gute Erklär-Videos.) Aus- und Weiterbildung haben sich allerdings bislang kaum dem erfolgreichen Leben in einer VUCA-Welt gewidmet. Da lernen wir aus dem Leben selbst – und im Job. Was das für Produktmanagement und Unternehmensführung bedeuten könnte, dazu will ich ein paar Überlegungen in dieser Artikelserie anstellen.

Was Komplexität und schneller Wandel für uns bedeuten

Natürlich ist nicht alles unvorhersagbar und unplanbar geworden. Doch weil die meisten Unternehmen aus einer Zeit stammen, in der die Welt noch nicht ganz so VUCA war, tun sich Organisationen und Führungskräfte damit schwer. Denn VUCA setzt eine andere Denkhaltung voraus: waren wir es bislang gewohnt, aufgrund von recht eindeutigen Daten und Informationen zu planen, zu entscheiden und arbeitsteilig auszuführen, so versuchen wir nun aufgrund unscharfer Eindrücke einer unübersichtlichen und schnell veränderlichen Umgebung unseren Düsenjäger irgendwie auf Kurs zu halten.

Dementsprechend verändert sich auch unser Verständnis von Führung: die Führungskraft in der VUCA-Welt ist nicht Funktionsträger, sondern als ganzer Mensch am Schnittpunkt technischer und sozialer Systeme tätig. Ob strategische oder operative Entscheidungen, sie beinhalten gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche, marktbezogene und umweltbezogene Dimensionen. Und je nachdem wie VUCA das Umfeld ist, es beeinflusst wie gut wir –

  • Trends erfassen und in ihrer Relevanz für das Unternehmen beurteilen können;
  • die Auswirkungen von Entwicklungen und unser Verhaltensalternativen abschätzen können;
  • Zusammenhänge erkennen und Wechselwirkungen deuten können;
  • uns auf alternative Szenarien, Herausforderungen und Krisen vorbereiten;
  • Marktchancen zu nutzen verstehen.

Ganz offenkundig sind diese Fähigkeiten für das Unternehmen überlebenswichtig und wirken als Differenzierung im Wettbewerb. Um erfolgreich zu sein, benötigen Unternehmen und ihre Führungskräfte also VUCA-Kompetenzen. Wir können das als eine Art Fitness deuten, einen smarten Umgang mit der VUCA-Welt.

Weshalb es ein Produktivitätsproblem gibt

Was geschieht, wenn wir vom Verkehrsübungsplatz in den Dschungel wechseln, von der Straßenbahn auf den Düsenjäger umsteigen? Wir werden erst einmal sehr vorsichtig und sehr langsam, doch das geht nicht. Wir versuchen, mit großem Aufwand alles richtig zu machen – und genau das klappt nicht. Haben wir in der geordneten Welt des  Verkehrsübungsplatzes noch elegante und effiziente Abläufe hingelegt, kämpfen wir uns nun schwitzend und schmutzig durch den Dschungel. Typische Symptome sind:

  • Perfektionsstreben mündet in Over-engineering: der Kunde erkennt keinen Mehrnutzen, und das mindert seine Zahlungsbereitschaft. Pirouetten und Loopings im Dschungel erhöhen nur die Reibung, bringen die Reisegruppe aber nicht ans Ziel.
  • Null-Risiko-Bestreben mündet in Überregulierung: überbordende Vorschriften führen zu hohem Entwicklungsaufwand, Ausschuss und Verschwendung. Wir stecken sehr viel Energie in die Defensive. Erst eine Autobahn durch das Dickicht zu bauen, kostet mehr, als den Bäumen einfach auszuweichen – und die Naturschützer meckern weniger.

Kurzum: ohne VUCA-Kompetenzen verschlechtert sich das Verhältnis von Kundennutzen zu Ressourcenaufwand. Dieses Nutzen/Aufwand-Verhältnis ist eine nützliche Effizienzkennzahl: Wenn wir schon auf Sicht navigieren, sollten wir die Zielerreichung je Treibstoffeinsatz im Auge behalten. So ein Maß der gesamtunternehmerischen Produktivität können wir also gut gebrauchen. Es geht darum, sinnvoll gesteckte Ziele agil zu erreichen, und um einen nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen des Unternehmens. Die gute Nachricht ist, dass dies erlernbar ist.

Produktivität als Verhältnis von Kundennutzen und Ressourcenaufwand.

Produktivität als Verhältnis von Kundennutzen und Ressourcenaufwand.

Agil – Getting to wow

Was bedeutet nun eigentlich das Zauberwort agil? Aus der Systemtheorie entlehnt sind Merkmale wie Zielverfolgung und Anpassung an Umgebungsbedingungen. Aus der Software- und Produktentwicklung wissen wir, dass es darum geht, effektiv und schnell – mit wenig Bürokratie – einen Kundennutzen zu erreichen. Deshalb ist das Prinzip der Agilität etwas mehr auf den Zähler in unserer Produktivitätskennzahl ausgerichtet.

Das deckt sich erfreulich mit dem Begriff der Kernkompetenz, die Prahalad und Hamel (1990) beschreiben als „…the skills that enable a firm to deliver a fundamental customer benefit“. Danilovic und Leisner stellen den Bezug zum Produktmanagement her: Kernprodukte sind die physische Verkörperung der Kernkompetenzen. Damit haben wir nun den Zusammenhang zwischen agilen Kompetenzen, Produktentwicklung und Wettbewerbsfähigkeit hergestellt.

Nachhaltig – Avoid Hitting the walls of the funnel

Das andere Zauberwort ist noch schillernder: nachhaltig galt vielen als dunkelgrün. Doch auch hier weiß die Systemtheorie Rat: Selbsterhaltung und Einbettung in größere Zusammenhänge setzen voraus, dass eine Organisation ihre Umgebung nicht überstrapaziert. Das hat etwas mit dem Bewirtschaften knapper Ressourcen, mit dem Schutz empfindlicher Güter wie Gesundheit sowie mit dem Erhalt der License to Operate (Legitimität) zu tun. Das Prinzip der organisationalen Nachhaltigkeit ist also etwas mehr auf den Nenner in unserer Produktivitätskennzahl ausgerichtet.

Wenn Agilität die effektive Zielverfolgung bezeichnet, dann meint Nachhaltigkeit den Schutz und Erhalt der zur Erfüllung dieser selbst gesteckten Ziele benötigten Ressourcen. Dabei kann es sich um natürliche Ressourcen wie Rohstoffe, Energie und Wasser handeln; ebenso gehören auch nichtmaterielle (Human- und Sozial-) Ressourcen dazu wie Wissen, Fähigkeiten, Motivation und Beziehungen. Der Ressourcenabhängigkeitsansatz nach Barney und Hesterly (2006) untersucht diese notwendigen Inputs (Produktionsfaktoren), um die ein Unternehmen mit anderen Marktteilnehmern konkurriert. Knappheiten lösen kritische Zustände aus – als wenn uns im Dschungel das saubere Trinkwasser ausgeht – und bedrohen so die Autonomie der Organisation. Damit haben wir nun auch einen Zusammenhang zwischen nachhaltigen Kompetenzen, Unternehmensführung und Zukunftsfähigkeit hergestellt.

Fazit

Produktmanagement und Unternehmensführung sollten also agil und nachhaltig sein. Das gilt umso mehr in einer VUCA-Welt. Den Fragen, woran wir entsprechende Kompetenzen erkennen und wie sich die Produktivität (Kundennutzen pro Ressourcenaufwand) als Kennzahl ermitteln lässt, gehe ich im nächsten Teil der Serie nach.

Literatur

  • Barney J.B., Hesterly W. (2006): Organizational Economics: Understanding the Relationship between Organizations and Economic Analysis. In: Clegg et al. (Hrsg.): Handbook of Organization Studies; 2nd edition. Sage Publications. London.
  • Danilovic M. & Leisner P. (2007): Analyzing core competence and core products for developing agile and adaptable corporation. In: Proceedings of the 9th Dependency Structure Matrix (DSM) International Conference, München, 16.–18. Oktober 2007.
  • Prahalad C.K., Hamel G. (1990): The Core Competence of the Corporation. Harvard Business Review May/June 1990, S. 79–91.
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Datum: Feb. 03Autor: Ivo Mersiowsky
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